Beraten heißt nicht belehren. Beraten heißt nicht, alles besser zu wissen. Ich will meinen Kunden einen neuen, einen fremden Blick auf ihre Probleme ermöglichen. In dieser Problemdefinition liegt oft schon die Lösung.
„Hello Stranger“, sagte die Chefassistentin eines Münchner Start-ups jedes Mal zu mir, wenn sie mich an der Eingangstür des Unternehmens abholte. Ich habe sie nie gefragt, warum sie genau diese Formulierung wählte. Vielleicht mochte sie die Formulierung. Vielleicht sagte sie das zu jedem, der kein Teil der Firma war. Vielleicht war ich für sie auch deswegen ein Fremder, weil ich viel älter war als der typische Angestellte des Unternehmens (und mit Anzug und Krawatte einen anderen Kleidungsstil bevorzugte). Jedenfalls fiel mir irgendwann auf, dass sie eine treffende Bezeichnung verwendete. Denn ein Berater ist ja tatsächlich ein Fremder. Ein Berater gehört nicht dazu.
Im Jahr 1908 verfasste der Soziologie Georg Simmel seinen großartigen „Exkurs über den Fremden“. Dieser Fremde tritt typischerweise als Händler auf, der von außerhalb kommt. Über diesen Fremden schreibt Simmel: „…er ist der Freiere, praktisch und theoretisch, er übersieht die Verhältnisse vorurteilsloser, misst sie an allgemeineren, objektiveren Idealen und ist in seiner Aktion nicht durch Gewöhnung, Pietät, Antezedentien gebunden.“
Das ist eine gute Beschreibung der Rolle meiner Rolle. Ich biete keine klassische Expertenberatung an. Meine Kunden kommen aus so unterschiedlichen Bereichen wie Recht und Finanzen, mittelständische Fertigung, Software-Entwicklung. In diesen Geschäftsfeldern bin ich kein Insider. Niemand erwartet von mir Ratschläge zur optimierten Kabelfertigung oder zur zukünftigen Entwicklung des Steuerrechts (hoffentlich!). Meine Ressource ist die Fremdheit. Die Organisationen, in denen ich zu Gast bin, sehe ich von außen. Ich bin nicht betriebsblind. Ich kann Absonderlichkeiten entdecken, die im Unternehmen niemandem mehr auffallen, weil sich alle an sie gewöhnt haben. Weil ich kein Teil der Mikropolitik und der Machtspiele bin, kann ich die „Verhältnisse vorurteilsloser“ in den Blick nehmen. Und ich kann es auch wagen, Themen anzusprechen, die bisher verschwiegen wurden. Ich bin eben nicht zu nah dran. Insofern unterscheidet sich meine heutige Rolle des selbständigen Beraters stark von meiner dreijährigen Erfahrung als Inhouse-Consultant bei einem großen Software-Konzern. Damals hatte ich irgendwann die (reichlich vorhandenen) Marotten der Firma für mich selbst übernommen. Selbst wenn mir ein Problem auffiel, musste ich mir gut überlegen, ob ich es anspreche: War es der Mühe wert? Würde ich irgendwen gegen mich aufbringen? Was war für mich zu gewinnen oder zu verlieren?
Ein Fremder spricht meist auch eine fremde Sprache. In meinem Fall ist das die Sprache der Soziologie. Es gehört zu meinen schönsten beruflichen Erfahrungen, wenn ich sehe, wie diese manchmal durchaus seltsame Sprache ihre Wirkung entfaltet. Wenn ein soziologischer Begriff (ein Fremdwort!) wie „lokale Rationalität“ (also die vielen konfligierenden Interessen einzelner Abteilungen oder Teams), „Eigendynamik“, „Abweichungsverstärkung“ oder „Entscheidungsparadoxie“ seine Wirkung entfaltet. Der Soziologie Armin Nassehi hat einmal in einem sehr lesenswerten Interview gesagt: „Ein guter Berater muss Sätze sagen, die überraschen. Ein guter Berater ist ein Gegenüber, das mich dazu bringt, Sätze zu sagen, auf die ich selbst nicht gekommen wäre.“ Genau so definiere ich meine Rolle. Ich will meinen Kunden einen neuen, einen fremden Blick auf seine Probleme ermöglichen. Und in dieser neuen Perspektive, dieser neuen Problembeschreibung liegt dann oft schon die Lösung.
Ich liefere kein Patentrezept, kein Best-in-Class-Organisationsdesign, das der Kunde dann „nur noch“ umsetzen muss. Stattdessen muss der Kunde selbst seine Probleme und seine Lösungen definieren. Ich unterstützte, berate, begleite ihn dabei. Das ist für den Kunden ziemlich anstrengend. Aber schon Georg Simmel wusste, dass die Begegnung mit dem Fremden herausfordernd ist. Wer sich beraten lässt, lässt sich beobachten und zwingt sich dazu, sich selbst zu beobachten. Das kann sich lohnen. Mein Rat wäre, den Fremden und die fremde Perspektive mit einem fröhlichen Hallo zu begrüßen.